Anton
Die erste Frau war gekommen, als die Sonne ihre letzten Strahlen über
die Felder schickte. Illia und seine Brüder hatten eben zu Abend
gegessen und Illia goß Wasser in den großen Topf, um es für
den Abwasch zu erhitzen. Das war seine tägliche Aufgabe, an diesem
Abend jedoch wurde er davon entbunden. An diesem Abend war Frau Olle in
die Küche getreten, ihre Augen waren rot und Mutter hatte gesagt:
"Lass es, Illia, geh aufs Zimmer." Die letzte Frau ging, als
es zu dämmern anfing. In dieser Nacht wachte Illia zwei Mal auf.
Der Mond stand hoch und strahlte durch das einzige Fenster ins Zimmer
hinein, als Illia zum ersten Mal geweckt wurde. Zwischen den Schnarchgeräuschen
seiner Brüder, vernahm er von unten aus der Küchenstube mehrere
Stimmen, aber kaum zusammenhängende Sätze drangen zu ihm. Das
letzte Mal, dass die Eltern so spät Besuch gehabt haben, dachte Illia,
war einige Wochen her, als der Nachbar, Herr Motte, betrunken gewesen
war und sich im Haus geirrt hatte. Er hatte solch einen Lärm gemacht,
dass alle wach wurden und dann brachte Vater den Nachbar in das richtige
Haus, kurze Zeit später kam Frau Motte und Mutter erlaubte ihr in
der Wohnstube zu übernachten. Aber diesmal schien es anders zu sein.
Wenn seine Brüder nur leiser schlafen würden, dachte er, so
leise wie er oder wie Sonja. Er drehte seinen Kopf zur Seite und beobachtete,
wie sich der Brustkorb seiner kleinen Schwester ruhig hob und senkte,
den Kopf an die kühle Wand gepresst, einen Stofffetzen in der kleinen
Faust. Illia lächelte, widerstand der plötzlichen Drang ihren
Kopf zu streicheln, wie er es abends oft tat, um sie zum Schlafen zu bringen,
und konzentrierte sich wieder auf die Stimmen unter dem Zimmer, aber er
konnte immer noch nicht viel hören. Vorsichtig glitt er unter der
Decke hervor, der Boden war rau unter seinen Füssen. Ein wenig vornüber
gebeugt machte er einen Schritt, dann noch einen. An seinen Schultern
und den Beinen bildete sich Gänsehaut. Aus dem oberen Teil des Etagenbettes,
in dem seine Brüder schliefen, hing Jons Arm schlaff hinunter, aus
dem unteren schauten die Füße von Ben heraus. Noch einen Schritt,
dann eine kleine Wendung, um der knarrenden Diele auszuweichen, dann ganz
langsam die Klinke hinunter drücken. Der Flur war unbeleuchtet, aber
links, von der Küche her, die sich am unteren Ende der Treppe befand,
drang ein wenig Licht auf die Stufen, und Wärme. Illia lehnte die
Tür so dicht es ging wieder an den Türrahmen und hockte sich
auf die oberste Treppenstufe. Er konnte sie nicht sehen, aber nun konnte
er sie besser hören.
"Hier, Melie, nimm ein frisches Tuch." Melie, das war Frau Olle.
Sie nahm das Tuch dankend an und ihre Stimme klang ganz geschwollen und
undeutlich, und als sie dann wieder sprach, sagte sie nur "Mein armer
"
und dann heulte sie auf und schneuzte wieder. Illia rutschte eine Stufe
tiefer, er wollte sehen, ob auch Frau Heile da war, in seiner Küche,
mitten in der Nacht. Frau Heile schenkte ihm immer ein Stück Apfelkuchen,
wenn er ihr die Sachen brachte, die Mutter für sie genäht hatte,
und manchmal bat sie ihn sogar für eine Tasse Tee ins Haus herein.
Es gab sehr viele Bücher in dem Haus, und Bilder, die Illia sonst
nirgendwo gesehen hatte. "Es ist bestimmt alles in Ordnung, Frau
Olle." Das war die Stimme von Frau Kellis. Und dann sagten die Stimmen
von Frau Motte und Frau Gugel fast gleichzeitig "Ja, bestimmt."
Frau Gugel und Frau Motte waren Schwestern, und Mutter sagte einmal, Frau
Gugel sei eigentlich keine Frau, sondern ein Fräulein, was Illia
komisch fand, weil sie schon ziemlich alt war und ob man da noch ein Fräulein
ist, hatte er gefragt, aber Mutter hatte nicht geantwortet, sie hatte
zuerst gelacht und dann streng geguckt und gesagt, er solle Vater helfen.
Illia rutschte zwei weitere Stufen nach unten. Frau Olle schneuzte.
"Hm, war denn vielleicht etwas
vorgefallen, vorher?" Da
war sie, Frau Heile. Illia rutschte noch zwei Stufen, so dass er nun fast
an dem Punkt angekommen war, an dem die Treppe wieder gerade wurde und
wenn er noch tiefer rutschte, würde er bestimmt entdeckt werden.
Von hier aus hatte er einen recht guten Ausblick. Dass er Frau Motte und
seine Mutter nicht sehen konnte, machte ihm nichts aus, Mutter sah er
jeden Tag und Frau Motte hatte komische, runzlige Haut auf der Stirn und
trug eine Perücke, die manchmal, wenn sie verrutschte, Narben zum
Vorschein brachte.
"Wie? Was? Vorgefallen?" sagte Frau Olle und die anderen Frauen
schauten Frau Heile Stirn runzelnd an.
"Hat er vielleicht etwas ausgefressen? Hat er
Prügel bezogen?
Vielleicht
"
"Na, wenn einer von meinen Buben was macht, was sich nicht gehört,
dann kriegt er auch eine Tracht Prügel, wie soll denn das
"
regte sich Frau Kelis auf, aber Frau Olle unterbrach sie.
"Wie? Na
", sie hielt inne. "Nicht, dass ich wüsste,
dass er was ausgefressen hat. Und wenn, na, da hat er doch schon früher
vom Vater eine gehauen bekommen, ist doch richtig. Wie, was meinst du,
dass er
na, der wird doch nicht, wo soll er denn hin?" Und dann
heulte sie wieder auf und heulte und heulte, und die Weiber sahen Frau
Heile schief an und tätschelten Frau Olles Schulter, was aber nicht
half. Und dann sagte Mutter: "Na, vielleicht mache ich uns mal einen
Tee, wie wäre das?" Und dann kam sie hervor und ging zum Waschbecken,
der so nahe bei der Treppe war, dass Illia wieder hoch krabbeln musste,
um nicht von ihr gesehen zu werden. Er stand ganz oben am Treppenabsatz
und hörte wie sie den Tee vorbereitete und dann sagte Frau Gugel,
Mutter würde so einen guten Eierkuchen machen und Mutter lachte und
sagte "Na, dann mache ich gleich einen." Illia merkte wie sich
sein Magen zusammenzog. Und als sich auf seinem Arm wieder Gänsehaut
bildete, fiel ihm ein, dass Vater ja gar nicht in der Küche war,
also wahrscheinlich im Zimmer schlief und wenn Vater nun auch aufwachen
sollte und ihn da stehen sah, na, dann würde er womöglich die
nächsten zwei Tage kein Abendessen kriegen. Schnell zog er sich wieder
ins Zimmer zurück, legte er sich ins Bett und als Sonja sich kurz
darauf umdrehte und den kleinen Arm um ihn legte, in der Hand immer noch
den Stofffetzen, fühlte er die Augenlieder schwerer werden.
Das zweite Mal in dieser Nacht wachte Illia auf, weil er Stimmen im Zimmer
hörte. Er ließ die Augen geschlossen. Mutter war im Zimmer
und weckte Ben und Jon auf.
"Ihr müsst Vater und den anderen Männern helfen",
sagte sie und Ben stöhnte. "Es ist nicht mal die Sonne aufgegangen",
sagte Jon und Illia hörte das Bett knarren, als sein Bruder sich
aufsetzte.
"Ihr müsst suchen helfen", sagte Mutter. "Kommt in
die Küche, ich will die Kinder nicht aufwecken". Dann hörte
Illia wie sie das Zimmer verließ, und bevor sie die Tür hinter
sich schloss, hörte er immer noch Stimmen in der Küche, diesmal
leiser und nicht mehr so viele. Er hörte wie Jon aus dem oberen Bett
kletterte, hörte wie Ben einen Fluch flüsterte, dann glitt er
wieder sanft in den Schlaf zurück.
Der Tag versprach
schön zu werden, als sich die Dämmerung über den klaren
Himmel auszubreiten begann. Illia öffnete die Augen und sah direkt
in Sonjas lächelndes Gesicht. "Du Schlafmütze!", kicherte
sie, sprang aus dem Bett und eilte zum Stuhl, wo ihr Kleid über der
Lehne hing. Sie faßte es an und verzog das Gesicht. "Kalt",
stellte sie überrascht fest. Seit einem Jahr, als einige Kinder im
Nachbardorf an Lungenentzündung gestorben waren, holte Mutter noch
vor dem Sonnenaufgang, nachdem sie Vater das Frühstück zubereitet
hatte, Sonjas Kleid und hängte es zum Aufwärmen an den Ofen.
Später brachte sie es wieder hoch und weckte die Jungs auf. Aber
an diesem Morgen waren Jon und Ben schon vorher geweckt worden, erinnerte
sich Illia und schaute zum Etagenbett. Es war leer. Während Sonja
sich schmollend wieder ins Bett legte, stand Illia auf, zog schnell das
kalte kragenlose Hemd und die graue Hose an, die auf dem Stuhl lagen,
und trat in den Flur. Er blieb am Treppenabsatz stehen, beugte sich ein
wenig vor und lauschte. Das Haus war still. Bevor er hinunter in die Küche
ging, klopfte er an die Tür des elterlichen Schlafzimmers. Keine
Antwort. Vorsichtig öffnete er die Tür, das Bett war unberührt,
das Zimmer leer. In der Küchenstube standen auf dem Tisch ein paar
halbleere Becher, als er vorsichtig die Hand an den Ofen führte,
spürte er die Wärme schwerfällig hinausströmen. Er
lief wieder die Treppe hinauf. Sonja versuchte gerade die Knöpfe
am Kleid in die kleinen Löcher hineinzumanövrieren.
"Du bleibst hier, hörst du? Ich bin gleich wieder da. Mama und
Papa sind nicht zuhause, aber sie kommen gleich, und du bleibst hier im
Zimmer und rührst dich nicht vom Fleck, verstanden?" Er wartete,
bis sie widerwillig genickt hatte. "Ich meine das Ernst", wiederholte
er mit Nachdruck und fühlte sich dabei viel älter und reifer,
als es seine acht Jahre sonst zuließen. Dann kramte er ein Buch
unter der Matratze hervor, das er dort vor seinen Brüdern versteckt
hatte und drückte es Sonja in die Hand. Es waren nicht viele Bilder
drin, aber er hoffte, es würde sie trotzdem beschäftigen, bis
er oder Mutter oder seine Brüder wieder da sein würden. An der
Tür drehte er sich noch einmal um und zwinkerte ihr zu. "Wenn
du ganz brav hier bleibst, kriegst du bestimmt ganz viele leckere Pfannkuchen
zum Frühstück."
Sie schaute vom Buch auf.
"Versprochen?"
"Versprochen."
So einen Menschenauflauf
hatte Illia vorher nur bei der Hochzeitsfeier von Frau Motte gesehen.
Damals hatten alle Frauen im Dorf etwas vorbereitet, es gab ein Mahl,
das sogar größer war und besser schmeckte als das, was Mutter
zu Weihnachten machte. Vielleicht hatte Frau Gugel endlich einen Mann
gefunden, der sie heiraten wollte, dachte Illia, aber als er sich umsah,
konnte er keine Blumen erkennen, keine voll gestellten Tische und keine
Girlanden, die die Bäume am Teich schmückten. Er näherte
sich der Menschengruppe, es muss beinahe das ganze Dorf gewesen sein,
das sich da am Teich versammelt hatte. Er versuchte seine Eltern oder
seine Brüder ausfindig zu machen. Bei der Messe, dachte er, bei der
Messe jeden Sonntag war auch fast das ganze Dorf versammelt. Aber außer
der Mitternachtsmesse zur Weihnachtszeit fand sie immer in der Kirche
statt. Illia trat an den äußersten Kreis der Anwesenden und
versuchte zwischen ihren Beinen etwas zu erkennen, aber alles was er sah,
waren noch mehr Beine. In der Kirche, dachte er, waren alle ruhig. Hier
aber, hier herrschte keine Ruhe, von überall her hörte Illia
Stimmen. Jemand fragte, was passiert sei, weiter vorn schrie jemand und
immer wieder hörte Illia einen hohen Ton, es war wie das Heulen eines
Wolfes, der in eine Falle getappt war. Nachdem er vergeblich versucht
hatte sich Mithilfe seiner Ellenbogen voran zu kämpfen, wobei er
den Sohn des Ladenbesitzers, der wie üblich sternhagelvoll hin und
her wackelte, beinahe zu Fall gebracht hätte, kniete Illia sich hin
und versuchte sich auf allen Vieren durch die Menge zu bewegen. Die meisten
Menschen waren so damit beschäftigt ihre Köpfe in Richtung des
Teiches zu strecken oder mit dem Nachbar Vermutungen über den Grund
des Anlaufs auszutauschen, dass sie ihn nicht wahrnahmen. Je näher
er kam, desto lauter wurde es, er hörte Frau Gugel vier Reihen vor
sich schluchzen, auch die anderen Frauen weinten, einige hörte er
beten. Er kam zur dritten Reihe und wollte aufstehen, aber die Oberkörper
der Dorfbewohner lehnten so dich einander, dass sie eine Mauer bildeten,
die ihn wieder zurück zu Boden drückte. Er versuchte es wieder
auf den Knien. Neben den Hosenbeinen und den rostbraunen und grauen Röcken
der Frauen, sah Illia nun auch den schwarzen Rock des Priesters, der auf
und ab ging. Die Lippen, die zu der Soutane gehörten, murmelten etwas,
und dann wurde die Stimme lauter und sprach in jener Sprache, die keiner
im Dorf verstehen konnte. Bis auf Frau Heile vielleicht, dachte Illia,
zumindest hatte er von ihr erfahren, dass es sich bei der Sprache um Latein
handelt. Als der Priester zu sprechen anfing wurde es stiller in der Gemeinde
und auch Illia hatte plötzlich aufgehört sich nach vorn zu drängen.
Aber das Geheul setzte gleich wieder ein und Illia konnte nun erkennen,
dass es aus Frau Olle kam, und ohne zu überlegen stellte er sich
auf und sah seine Mutter bei Frau Olle stehen, nahe am Wasser. Einen Augenblick
später sah er auch, was alle Versammelten sehen wollten, den Grund
für das nächtliche Treffen und das Weinen und die Rede des Priesters,
die er nicht verstand. Aus dem Teich, etwa einen Meter hoch, ragte ein
Kreuz in die Höhe, die Arme waren verbogen und zwischen den grünen
Ablagerungen und den Algen blitzte der Rost hervor. Illia trat in die
erste Reihe. Auf dem Kreuz, wie auf einen Speer aufgespießt, hing
der kleine Körper von Anton, sein Haar glänzte ölig.
Illia fühlte wie ihn Hände auffingen, als er fiel, roch den
Alkohol, der aus dem Mund von Herrn Motte zu ihm drang. Die Stimme des
Priesters donnerte direkt über ihm.
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