Sammlung
Was wir sehen? Bräunlich gefleckte Tapete, die sich von der Wand
löst, die Flecke könnten an alles Mögliche erinnern, wenn
man nur genug Phantasie hat. Sie könnten an Figuren aus dem Rorschach
Test erinnern, die wiederum einen Schmetterling, eine Vase, ein Kaninchen
oder eine nackte Aphrodite abbilden könnten. Gegenüber dem Eingang
ein Fenster, man sieht die schweren grünen Gardinen, die aus dem
pompösen Kleid eines Theaterfundus geschnitten wurden, man sieht
noch die feinen Löcher, in denen eine Naht die Spitzenborte gehalten
hatte. An der rechten Wand, vom Eingang aus gesehen ein Schreibtisch,
der wie die abgedankte Arbeitsplatte eines Zimmermanns aussieht. In der
linken Wand steckt die Tür, die aus diesem Raum hinaus führt,
aus diesem Innen oder Außen. Um die linke Ecke eine weitere Tür,
diese führt zu der Sanitäranlage. Daneben ein kleiner Nachttisch,
ein naher Verwandter des Schreibtisches, die Ähnlichkeit ist nicht
zu übersehen, darauf eine matt leuchtende Pyramide. Neben dieser
das Bett. Zwei mal anderthalb Meter, eine Federung, die an das natürliche
Lächeln eines Neunzigjährigen erinnert, ein Überwurf aus
den Resten des grünen Königinnengewandes auf dem Treibsand der
Matratze.
Was wir hören? Ein schmatzendes Geräusch, als die Tapete darüber
sich immer weiter nach unten beugt und wie eine fleischfressende Pflanze
ihre Blätter um einen Kopf schließt. Dieser Kopf ist Teil eines
Körpers, der in diesem Moment auf dem Bett sitzt. Es ist mein Körper.
Ich kennen diesen Raum, besser als ich mich kenne, ich höre jedes
Geräusch und weiß alle mittlerweile zu identifizieren, fremde,
von mir zum ersten Mal vernommene Töne verursachen bei mir ein nervöses
Zucken und blasen sich auf, bis sie alles andere aus meinem Kopf verbannt
haben; in solchen Momenten ist es als wäre ich allein inmitten einer
unberührten Schneewüste, ich strebe, ich giere nach dem unbekannten
Ton, meiner Fata Morgana. Nach einiger Zeit nehme ich die bekannten Geräusche
kaum mehr wahr, sie zerschmelzen zu einem Rauschen, während ich auf
dem Bett sitze, über mir die Papierkrallen, und mein gesamter Körper,
die feinen Härchen darauf sich wie Satelliten in die Höhe strecken,
bereit, jede unbekannte Schallwelle einzufangen. Es geht aber keineswegs
nur um die akustische Befriedigung, sie ist nur der Auftakt zu einem antiken
Drama, einer Zirkusvorstellung, einer ohrenbetäubenden Oper, einer
absurden Performance. Du hörst den Ton, du erkennst den Rhythmus,
die Melodie, dann schließt du deine Augen und siehst sie, die Gegenstände,
die das Geräusch verursachen, die Personen, die Lebewesen; du siehst
sie und du kennst sie.
Was wir in diesem Moment hören, ist das Tropfen eines Wasserhahns.
Dieses Geräusch begleitet mich seit ich hier wohne, es ist unvergleichlich,
weil die Person, die dafür verantwortlich ist, unvergleichlich ist.
Das Tropfen ereignet sich im Badezimmer des Appartements, das sich hinter
meinem Bad befindet. Die Frau, die dort wohnt, eine schmale Blondine in
den Dreißigern, leidet unter Neurodermitis, sie verlässt selten
ihre Wohnung. Ich stelle mir vor, wie ihre Hautschuppen, gleich dem Ariadnefaden,
ihren Weg nachzeichnen, wenn sie sich in der Dunkelheit hinaus stiehlt.
Ich stelle mir vor, dass sie ihre Nächte in exklusiven Räumen
voller hauchdünner weißer Stoffe verbringt, zwischen denen
sich Gleichgesinnte gegenseitig häuten, indem sie sich lüstern
aneinander reiben. Hinter meinen geschlossenen Augen sehe ich, wie sie
in der Morgendämmerung, leise wie eine Schneeflocke, den Flur entlang
gleitet und die Tür zu ihrem Appartement aufschließt, ich sehe
die Knochen in ihren Handgelenken, wenn sie den Schlüssel umdreht.
Dann geht sie ins Badezimmer und lässt den Tropfen aus dem Wasserhahn
eine Sturmflut folgen. Sie wäscht sich alle anderthalb Stunden, zwei
Mal am Tag putzt sie ihre Wohnung. In der übrigen Zeit ist das Einzige,
was ich aus der Wohnung vernehme, das Tropfen des Wasserhahns.
Ein anderes Geräusch, das ich regelmäßig wahrnehme, kommt
von der mir abgewandten Seite der Tür. Es ist ein behäbiges
Klopfen, verursacht durch die Hand meines Nachbars auf der anderen Seite,
hinter der Wand, an die sich mein alternder Schreibtisch klammert. Die
Hand, die an meine Tür klopf, ist ebenfalls alt, gezeichnet von violetten
Flüssen, die sich knapp unterhalb der Haut aufbäumen, auf dieser
Landschaft zeichnet sich eine weitere ab, Farbflecken, die sich wie eine
Tätowierung in die Haut eingerieben haben und nicht mehr abzuwaschen
sind. In seiner Wohnung riecht es nach Schweiß und Terpentine, das
dürftige Mobiliar und die Leinwände, die den meisten Platz für
sich beanspruchen, sind überdeckt von einer feinen grauen Schicht,
die fast wie der Flaum auf dem Kopf meines Nachbars aussieht, unter dem
Tuch, das er ab und zu hinunter zieht um sich damit das Gesicht abzuwischen.
Seine Haare haben sich einfach geweigert wieder zu sprießen, obwohl
es hieß, dass der Boden wieder fruchtbar sei, auch die Schmerzen
haben nicht nachgelassen, zumindest behauptet er es. Wenn man genauer
hinschaut, sieht man unter der farbigen Öllandschaft auf seinen Händen
die Löcher, die er mit einer Nadel in die Krampfadern gegraben hat.
Ich höre das Klopfen an meiner Tür, drei langsame Schläge.
Er weiß, dass ich ihn nicht hinein bitten werde, er schlurft wieder
in seinen Raum, den ich kurz darauf betrete, so, wie wir es verabredet
haben. Er zeigt mir ein neues Gemälde, noch feucht und klebrig wie
ein Neugeborenes, seine Finger zittern und ich weiß, dass er sich
gleich ins Badezimmer zurückziehen wird, damit ich sein Kunstwerk
in Ruhe betrachten kann, damit er das Zittern aus seinem gebrechlichen
Körper mit einem weiteren Stich in die Handfläche verbannen
kann. Ich stelle mir vor, er ist ein Archäologe, der in seinem eigenen
Körper nach einem Schatz gräbt, immer versucht neue Plätze
in dem Areal zu finden, in die der Spaten, die Harke, noch nicht eingedrungen
sind, in der Hoffnung, dass dieses der Ort ist, der der langen Suche ein
Ende macht, der Ort seiner Erleuchtung. Ich stelle mir seinen Körper
vor, eine Ausgrabungsstätte, eine ehemals ebene Landschaft, die nun
von Schluchten, Hügeln aufgeschütteter Innereien übersät
ist. Das Gemälde, das er mir zeigt, sieht aus wie die anderen, die
ich gesehen habe, wie all die, die in den Ecken seines Museums unter der
Staubdecke schlummern, wie die Bruchstücke einer prähistorischen
Vase, die auf den letzten Splitter warten, um sich endlich zu einem Ganzen
fügen zu können. Ich stelle mir vor, wie sie flüstern.
Ich höre all die Bruchstücke dieses Hauses, seit vielen Jahren,
ich hörte den Mann über mir, für den alles Fleisch war,
wie er stöhnte unter dem Gewicht der stählernen Stange, die
er an seine gewölbte Brust drückte. Ich hörte seinen letzten
Atemzug, der aus dieser Brust entwich, als sein Körper dem Gewicht,
das er sich auferlegte, nicht mehr standhalten konnte. Jetzt wohnt in
diesem Appartement eine junge Frau, die Tag für Tag ihre eigene Arie
zum Besten gibt, ich stelle sie mir in einem zerrissenem Kleid vor, wie
sie nach ihrem Geliebten sucht, wie sie ihre Verzweiflung in das Husten
hineinlegt, das sie immer wieder erschüttert, bevor es in Weinen
übergeht. Dann kommt die Metamorphose, aus dem Weinen wird Singen,
ich fühle den Rhythmus, ich höre wie sie unzusammenhängenden
Sätzen eine Melodie verleiht, an die sie sich klammern kann, bis
sich ihre Stimme bricht und das Husten sie wieder wie ein Kokon umwickelt.
Ich höre das gespielte Stöhnen der Frau in der Wohnung unter
mir, ich höre das echte Stöhnen ihrer Freier. Ich sehe, wie
sie einmal die Woche das Fenster aufreißt, wie sie sich hinauslehnt,
um den Duft der Freiheit einzuatmen, von der sie nur ein Schritt trennt,
ich höre, wie sie das Fenster wieder schließt, behutsam, wie
eine Schachtel mit Erinnerungen drin.
Ich sammle diese Geräusche, ich katalogisiere sie, wie die Bruchstücke
eines untergehenden Reiches.
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