Auszug aus dem Roman "Und wenn ja, wie viele?"

A. Kein Anschluss unter dieser Nummer



Es ist die Stimme einer Frau, die sich meldet. Warm und distanziert zugleich, wie die Stimme einer beispielhaften Sozialarbeiterin. Die Stimme sagt: "Kein Anschluss unter dieser Nummer."
Es ist Freitagabend und David wartet auf einen Anruf von Stefan. Er wartet schon zwei Bierflaschen lang. Heute ist Freitag, ihr Spielabend, er wartet darauf, dass Stefan anruft, denn er ruft immer vorher an. So ist Stefan, eine gutmütige Freundin, ein treuer Hund, eine übereifrige Adoptivmutter. David nimmt einen tiefen Schluck aus der Flasche, erlöst seine Beine vom Schneidersitz und geht zum Fenster. Draußen regnet es, durch die unsichtbaren Ritzen in den Fensterrahmen pustet sanft kalter Wind auf seine Hände, als wolle er eine Wunde schneller heilen lassen. David wählt die Nummer von Jens.
"Die Nummer, die Sie gewählt haben, ist zurzeit nicht vergeben."
David findet es seltsam, das tut er bestimmt, aber er macht sich keine Sorgen. David kommt das Ganze wie ein Déja-Vue vor. Die Frauenstimme, die immer noch in seinem Ohr klingt, das sanfte Pusten, die Wohnung, die er lange nicht mehr verlassen hat. Es ist Freitagabend und er wartet auf den Anruf von Stefan. Aber der Anruf kommt nicht. Stattdessen klopft es an der Tür.
*
Beim ersten Mal dachte David, es sei ein Witz.
Ich weiß über dich Bescheid.
Ein Spaß, wie an der Tür von Fremden klingeln und abhauen, eine Mutprobe.
Vor der Tür ist es leer und David denkt: du hast es dir nur eingebildet, es hat niemand an deine Tür geklopft. Dieser erste Gedanke, der fast immer kommt, die Beruhigung, das Morphium, die Worte, die dich zum Lächeln zwingen und zum Kopfnicken, während du flüsterst: ich werde paranoid. Paranoia ist gut, an Krankheiten trägt man keine Schuld - und Paranoia ist eine Krankheit, es ist das Lamm, auf das du deine Sünden packen kannst, bevor du es an deiner statt in die Wüste schickst, in den Tod. Aber etwas in David weiß, dass es keine Einbildung war, er sieht beinahe die fünf gekrümmten Finger, das Weiß der Knöchel, an seiner Tür.
Beim ersten Mal dachte er, es muss ein Kind gewesen sein. Die Druckbuchstaben auf dem Blatt Papier schief, unproportional, scharf geschnitten.
Er schließt die Tür und setzt sich wieder auf das Sofa. Das Bier ist in seiner Hand warm geworden, er nimmt einen großen Schluck.
Sie liegen in der Schublade in der alten Kommode, alle sechs, seine Hand greift hinein und zieht den untersten hervor. Gleich wird das Papier über ihn Bescheid wissen, gleich wird er Bescheid wissen. Er zieht den Zettel aus dem roten Umschlag. Was auf dem Zettel steht, ist nicht das, was es sein sollte, was beim letzten Lesen noch drauf stand. Auf dem Zettel steht: Was ist passiert?
Hat das Papier etwa seine Weisheit verloren?

***

Wie ich zu David kam? Regelmäßig beobachtete ich drei junge Männer, die sich einmal die Woche treffen, um "Stadt, Land, Fluss" zu spielen. Sie zirkulierten in ihren drei Wohnungen, die nicht die geringste Ähnlichkeit aufwiesen. Letztes Mal war David dran. David hat eine riesige Altbauwohnung von seinen Eltern geerbt, ihre Fotos stehen auf seinem Nachttisch. Seine Mutter war eine Liebhaberin von antiken Möbeln, die Jungs sitzen immer im Wohnzimmer am schweren Eichentisch, gegenüber der Erlenholzkommode. Anfangs hat David jeden Tag die Möbel abgewischt und poliert, aber seit einiger Zeit sammelt sich eine dicke Staubschicht auf dem Holz. Wenn die Seelen seiner Eltern noch in dieser Welt herumschweben würden, könnten sie ihm Botschaften in den Staub schreiben.
Die Kategorie "Kündigungsgrund" kam von Stefan. Sie war fast jede Woche im Spiel. Jens schlug meistens "chemische Elemente" oder "Maßeinheiten" vor. Meistens einigten sie sich dann auf "Bezeichnungen für Geschlechtsteile". David bestand auf "Selbstmordvarianten".
"A" sagte David und seine Lippen beteten lautlos das Alphabet runter.
"Stopp".
"C".
Am Kunststoffkronleuchter über dem Tisch funktionierten nur noch zwei Glühbirnen. Stefan und Jens kriegten kaum Licht ab, aber sie rückten nicht näher zusammen.
"Fertig", sagte David und lehnte sich auf dem Polstersessel zurück.
Pflanze?
"Chrysantheme."
Kündigungsgrund?
"Chemische Verunreinigung des Trinkwassers". "Chininsucht". "Chinesische Abstammung".
Selbstmordvariante?
"Chlorvergiftung". "Chinesisches Gefängnis".
David holte Wein aus der Küche. Es war die einzige Flasche, die im Ständer lag. Sein Vater war Weinliebhaber gewesen, die zehn Flaschen, die er hinterlassen hatte, waren mindestens zehn Jahre alt. David hatte sie alle in den ersten vier Tagen nach der Beerdigung geleert.
"A", sagte Stefan und umklammerte den Bleistift, bis seine Knöchel weiß wurden.
"Stopp", sagte Jens.
"S".
Ich saß auf der Bank im Park gegenüber von Davids Wohnung, ich beugte mich über den Schreibblock. S ist einfach.
Tödliche Krankheit? Syphilis.
Rockband? Soundgarden.
"Sissi Top", sagte Stefan und sie lachten einpaar Minuten, bevor es weiter ging. Ich lachte auch und eine Frau, die ihren Hund spazieren führte, warf mir diesen aus-dem-Augenwinkel-Blick zu. Eine Mischung aus Vergnügtheit und Vorsicht.
Literarische Figur? Salome.
Weibliches Geschlechtsteil?
"Schneckenhaus", sagte David und bekam zehn Punkte.
Selbstmordvariante? Strangulieren.
*
Ich sah David dabei zu, wie er den Briefkasten aufschloss, wie er die Post herausnahm, dann stieg er die Treppe hoch. Ich sah, wie er die Wohnungstür aufschloss, wie er seine Schuhe abstreifte und in die Küche ging. Die Teller stapelten sich im Waschbecken, die Flaschen stapelten sich unter dem Tisch, unter Davids Augen stapelte sich die Haut. Er setzte sich hin und nahm die Post zur Hand. Ein Prospekt für Kosmetika, eine Regionalzeitung, die er nie liest, und ein roter Umschlag. Ich sah, wie David ihn umdrehte, nach dem Absender suchte. Es gibt keinen Absender.

***

Nein, David schaut in diesem Moment nicht mit großen verschreckten Augen auf die Flasche in seiner Hand - in der sie sich übrigens gar nicht befindet - um dann mehrmals ungläubig zwischen ihr und dem Zettel hin und her zu blicken und schließlich die Flasche mit einem weiten Bogen von sich zu schleudern. Er tut nicht, was ein Säufer in Tausenden von Filmen, die David sich in seinem Leben angesehen hat, normalerweise tut, wenn sich ihm plötzlich ein Engel/Außerirdischer/Gott/ein sprechendes Tier/ein Geldbatzen/ein seltsamer Brief offenbart. David starrt den Zettel in seiner Hand an, dann greift er nach dem Umschlag um zu sehen ob sich auf dem auch etwas getan hat. Natürlich hofft er auf eine Adresse, die plötzlich sichtbar werden würde. Doch der Umschlag ist immer noch leer, immer noch rot, die einzigen Fingerabdrücke, die darauf zu erkennen sind, stammen von David selbst, von seinem Schweiß. Jetzt greift David nach der Bierflasche, dann geht er zurück zur Tür und schaut durch den Spion. Er kann nichts erkennen, also öffnet er die Tür. Er tut es nicht vorsichtig - erstaunlicherweise ist das Gefühl der Paranoia verflogen - er reißt die Tür auch nicht mit einem Ruck auf, kuckuck, er öffnet sie so, wie er es immer getan hat. Vom Hauseingang dringen Hundebellen und Flüche zu ihm herauf, irgendwo zwischen den Stockwerken versucht Mariah Carey gegen Janet Jackson anzukommen, aus dem Müllbeutel neben der Nachbarwohnung steigt ein süßlich saurer Geruch. Vor der Tür Davids ist es nach wie vor leer. David denkt nicht seit heute, dass er wahnsinnig wird, er denkt es seit langem, der Gedanke kam noch vor dem ersten Brief, den er noch aus dem Briefkasten gefischt hat - später, als er aufgehört hat seine Wohnung zu verlassen, fand er sie vor seiner Tür, direkt vor den Füßen eines der Pizza-, Chinapfannen- oder Postlieferanten.
David setzt sich wieder auf das Sofa, und die Bilder und Geräusche kommen wieder, er kennt das Ritual schon. Früher hat er gedacht: Man kann sich das nicht vorstellen. Diese Hitze, diese erdrückende Luft, in der es von Geräuschen wimmelt wie von Flöhen im Fell eines Straßenköters. Und er versuchte es sich vorzustellen, um es dann aus seinem Kopf zu verbannen. Die Geister, die man ruft…
Er stellt es sich vor, dieses seltsame Licht, farbenfroh, aber durchtränkt von einem Schleier, einem orangenfarbenen Filter, einem andauernden Sonnenuntergang. Oder war es nicht so? Vielleicht war es ganz klar, vielleicht hatten all die Stimmen, all die fremden Töne diese Messingluft zerschnitten und das Licht war beinahe weiß. Nein, es war staubig und schmutzig und gedämpft, auch die Geräusche wurden zu einem Phantom, nach einiger Zeit, wenn man sich an sie gewöhnt hatte. David liegt auf dem Sofa und stellt sich dieses fremde Land vor, in das er nie gereist war, in das er niemals reisen will. Das Land, dessen Erde das Blut seiner Eltern aufgesogen hat und die Reste einem Hund überlassen hat, der es gierig aufleckte. Dieser verwaiste, einsame Köter, der sich in jener Nacht vor Schmerz heulend niederlegte auf dem antiken Sofa. Der nicht einmal die Hand seiner ehemaligen Herrin ablecken konnte, weil es keine Hand mehr gab.
David weiß noch nicht, dass es das letzte Mal ist, dass er dieses Ritual vollzieht. Er geht noch einmal zum Fenster und lässt sich vom Wind auf die Wunde pusten.

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